Über die Wahl in Thüringen, den Bruch mit dem demokratischen Konsens und die Proteste in Hannover
Es hätte ein ganz normaler Mittwoch Abend werden können. Die einen wären zum Spanisch-Kurs gegangen, die anderem zum Sport und einige hätten wahrscheinlich gerade einen Kasten Bier beim gemütlichen WG Abend gekillt. Stattdessen stehen wir gemeinsam auf dem Kröpcke, haben kalte Füße und sind irgendetwas zwischen fassungslos, wütend und verängstigt.
Denn was sich nur wenige Stunden zuvor im Thüringer Landtag zugetragen hat, der Grund warum wir hier alle stehen, ist eine historische Zäsur, die wir noch immer nicht wahrhaben wollen. Zum ersten Mal seit der Weimarer Republik wurde in Deutschland ein Ministerpräsident mithilfe einer Partei gewählt, die mindestens Faschisten zu sich zählt, wenn nicht als Ganze faschistisch ist. Es ist die Thüringer AfD unter Björn Höcke. Dem Mann, der eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad gefordert hat, der vom Berliner Holocaustdenkmal als „Mahnmal der Schande“ spricht und der eine Sehnsucht der Deutschen nach einer Figur beschwört, welche „die Wunden im Volk wieder heilt, die Zerrissenheit überwindet und die Dinge in Ordnung bringt“.
Dass die Wahl zum Ministerpräsidenten in Thüringen kompliziert werden dürfte, war wohl allen klar, hatten doch CDU und FDP eine Unterstützung des Linken Bodo Ramelow von vorneherein ausgeschlossen. Die Meisten gehen jedoch davon aus, dass Ramelow im dritten Wahlgang, in dem eine einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen genügt, von Linken, SPD und Grünen gewählt wird. Doch so kommt es nicht. Stattdessen stellt sich Thomas Kemmerich von der FDP im dritten Wahlgang zur Wahl, seinen späteren Aussagen zufolge Angaben tut er dies, um eine „bürgerliche Alternative“ zu den beiden Kandidaten von links und rechts anzubieten. Die Aufrechterhaltung der Kandidatur des AfD Kandidaten Christoph Kindervater dient hingegen, wie sich kurz darauf zeigt, nur dem Schein. Mit 45 Stimmen und mit Unterstützung sämtlicher AfD Abgeordneter wird Kemmerich im dritten Wahlgang zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt. Ohne zu zögern nimmt er die Wahl an, kurz darauf schüttelt er Mike Mohring und Björn Höcke die Hand. Ein Bild zudem sogar die BILD titelt: „Handschlag der Schande“.
„Wenn die BILD Dich von Links angreift, hast Du wirklich große Scheiße gebaut“, sagt ein Freund später dazu.
Während das passiert, während Susanne Hennig dem frisch gewählten Ministerpräsidenten den Blumenstrauß vor die Füße wirft und während eine Eilmeldung nach der Anderen auf meinem Handy eingeht, sitze ich vor meinem Newsticker und kann einfach nicht glauben, was passiert ist. Kann nicht glauben, dass die AfD gerade zum Königsmacher wurde und kann noch viel mehr nicht glauben, dass Kemmerich die Wahl, ohne mit der Wimper zu zucken, angenommen hat. Mir wird in dem Moment klar: Das Konzept einer politischen Mitte, die sich selbst so gerne als Gegenpol der „politischen Extreme“ stilisieren, hat versagt. Anstatt einen linken, aber auf den demokratischen Grundwerten fußenden Ramelow zu dulden, lässt sich „die Mitte“ also lieber von Faschisten ins Amt hieven. Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse von CDU und FDP, die Kooperation mit der AfD ausschließen sollten, werden zu leeren Worthülsen.
Ich sehe auf Twitter, dass sich in Thüringen spontan Menschen auf der Straße versammeln und lautstark protestieren und denke mir: Das Zeichen muss von überall kommen! Nicht mit uns. Wir werden nicht wegschauen. Was in Thüringen passiert ist, kann sich überall wiederholen. Nein, wir werden nicht still sein.
Schnell telefonieren wir hin und her. Wir, das sind Julian und ich von der Grünen Jugend. Die Jusos und die Linksjugend sind sofort dabei. Auch der DGB schließt sich an, die Seebrücke ist dabei, der Flüchtlingsrat und die IL Hannover – Grüne, SPD und Linke sowieso. Sogar ein paar JuLis werden auf der Demo sein, wie ich später erfahre.
Die Polizei Hannover hat ein technisches Problem, kann meine Versammlungsanmeldung nicht öffnen. Nagut, klären wir das eben wie in alten Tagen am Telefon, meint der Beamte zu mir.
Schnell sind Redner*innen gefunden, ist eine Facebookveranstaltung erstellt, eine Pressemitteilung geschrieben. Dauernd klingelt das Handy, immer mehr Menschen möchten auf der Kundgebung reden, sie alle treibt um, dass der demokratische Konsens, den Faschismus gemeinsam zu bekämpfen und jegliche Kooperation abzulehnen, heute gebrochen wurde.
Um kurz vor Acht schmückt ein rot-grünes Fahnenmeer den Kröpcke. Rund 500 Menschen, die Polizei schätzt wie immer etwas weniger, haben sich eingefunden, um ihrem Unmut eine Stimme zu verleihen. Auch Presse ist da, der NDR macht eine Live-Schalte zur Demo.
Es werden Reden gehalten. Jemand beschwert sich, dass die Boxen nicht laut genug sind und dass es jedes Mal das Selbe sei. Wir lassen uns davon nicht beirren. Die ersten Reden werden gehalten. Wir sagen, dass der heutige Tag uns gezeigt habe, wie sehr wir die selbsternannte politische Mitte jeden Tag daran erinnern müssen, wohin Hass und Hetze führen. Die Jusos sagen, dass in Hannover kein Platz für Faschismus ist. Anja Piel, die grüne Fraktionsvorsitzende, ruft ins Mikrofon „Thomas Kemmerich hat einen braun befleckten Mantel bekommen. Und er zieht ihn auch noch an“. Boris Pistorius, der für die SPD spricht, appelliert „Es sind nicht die Feinde der Weimarer Republik gewesen, die deren Ende besiegelt haben. Es waren die Demokraten, die sie nicht leidenschaftlich genug verteidigt haben“.
Einige Reden später teilt eine Person mit, dass eine Spontandemo zum FDP-Büro angemeldet wurde. Das Fahnenmeer setzt sich in Bewegung.
Als ich wieder zu Hause bin lese ich, dass es überall Spontandemos gegeben hat: In Jena waren es 4000 Menschen, In Bremen 300, Frankfurt am Main 800, in Hamburg wohl mehr als 2000. Immerhin, denke ich. Immerhin gibt es überall Menschen, die ihren Spanischkurs sausen lassen, die den Sport verschoben und den WG Abend unterbrochen haben. Immerhin gibt es überall Menschen, die leidenschaftlich für unsere Demokratie streiten. Überall gibt es Menschen, denen nicht alles egal ist.
Bodo Ramelow twittert noch am selben Abend: „Den größten Erfolg erzielten wir in Thüringen. Dort sind wir heute wirklich die ausschlaggebende Partei. […] Die Parteien in Thüringen, die bisher die Regierung bildeten, vermögen ohne unsere Mitwirkung keine Majorität aufzubringen.” A. Hitler, 02.02.1930: “.
/sa