Wie ein MHH-Absolvent eine ungewöhnliche Karriere einschlug und damit die Welt der Wissenschaft für immer veränderte.
Am diesjährigen Valentinstag, dem 14.02.2019, organisierte der ASTA der MHH in Kooperation mit der Projektgruppe Campus Life eine Veranstaltung zum Thema „Wissenschaft im Wandel“. Als Ehrengast erwarteten sie Dr. Ijad Madisch, der sich im Anschluss an einen einstündigen Vortrag über seinen beruflichen Werdegang den Fragen des Publikums in einer Podiumsdiskussion stellte.
„Jeder von euch kann die Welt verändern. Im Großen wie im Kleinen. Ihr müsst euch nur trauen!“
Diesen Worten von Madisch, Arzt und Gründer der Platform „ResearchGate“, muss man wohl
Glauben schenken. Denn er hat sie wörtlich genommen – und ein unglaublicher Lebensweg tat sich auf. Auf diesen nimmt er uns an diesem Abend mit.
Von 2000 bis 2007 studierte Ijad Madisch als Sohn syrischer Einwanderer hier an der
Medizinischen Hochschule Hannover Humanmedizin. Bereits während seines Studiums entwarf Madisch Pläne für eine Art „Facebook“ für Wissenschaftler. Zunächst schloss er jedoch seine Doktorarbeit in der Virologie ab und begann seine Facharztausbildung in der Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Endokrinologie unter der Leitung von Prof. Dr. Michael Manns. Nebenbei studierte er noch Informatik an der Fernuniversität Hagen.
Doch bereits nach wenigen Monaten führte er mit seinem Chef ein folgenschweres Gespräch, in dem er seine vielversprechende Ausbildung aufs Eis legte. Was wie eine radikale Entscheidung schien, war für ihn wohl die einzig richtige. Er wollte nämlich seine Assistenzarztstelle reduzieren, um seine Vision einer online vernetzten Wissenschaft voranzutreiben, was jedoch in seiner Position nicht möglich war. Sein Weg führte ihn an das renommierte Massachusetts General Hospital, dem Lehrkrankenhaus der Harvard University. Dort arbeitete er mit einer halben Stelle in
der Radiologie, um sich den Rest der Zeit seiner Selbstständigkeit zu widmen.
Zunächst lieh er sich Geld bei Freunden, später konnte er die Gunst eines bekannten Investors,
Matt Cohen aus dem Silicon Valley, erwerben. Von Boston wurde der Hauptsitz des
Unternehmens nach Berlin verlagert und das Mitarbeiterteam vergrößerte sich stetig. Mit einem Investment von 35 Millionen Dollar ermöglichte jedoch niemand anderes als Bill Gates 2013 den Ausbau eines weltweiten Netzwerkes. Mit über 200 Mitarbeiter/innen und 15 Millionen Nutzer/innen weltweit hat sich die utopische Idee zweier Studierenden zur Realität entwickelt.
Im August 2018 – wie immer mit Superman – Cappy auf dem Kopf – stattete Madisch als Mitglied des Digitalrates des Bundesregierung dem Kanzleramt einen Besuch ab. Ein Bild entstand, das bundesweit durch die Medien ging: Madisch neben Regierungsmitgliedern wie Angela Merkel, Dorothee Bär und Hubertus Heil – in kurzer Hose, T-Shirt und Sneakern. „Es waren 30 Grad an diesem Tag, da gehe ich doch nicht mit Anzug dahin. Außerdem war es so viel bequemer.“ Einen Dresscode gibt es übrigens in seinem Unternehmen auch nicht. Gute Arbeit könne auch in Jogginghose geleistet werden, so Madisch.
Ein ehrgeiziger, visionärer und dennoch lockerer und sympathischer Zeitgenosse, der sich gegen Ende des Abends den vielen Fragen der anwesenden Gäste stellt. Mit Prof. Dr. Lorenz Grigull, Prof. Dr. Christine Falk und Dr. Clemens Blümel stellt sich damit eine heterogene Mischung an Diskutanten zusammen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven dem Wandel der Wissenschaft widmeten.
Was bedeutet denn nun eigentlich eine qualitativ hochwertige Wissenschaft? Bislang bestimmt eine klare Abfolge von Schritten den Weg zum Erfolg. Zunächst werden die wissenschaftlichen Daten in Form eines Fachartikels beim Journal eingereicht. Wird dort das Manuskript für grundsätzlich geeignet empfunden, werden unabhängige Gutachter/innen, sogenannte Reviewer, eingeschaltet. Diese prüfen die Qualität, Plausibilität und Aktualität der eingereichten Daten. Der Prozess kann sich mehrere Wochen oder sogar Monate hinziehen, bis das Paper entweder abgelehnt oder akzeptiert wird. Prof. Dr. Falk, Leiterin des Instituts für Transplantationsimmunologie, ist überzeugt, dass das sogenannte „Peer review“ die Validität und Nachhaltigkeit der erzeugten Daten verbessere. Zudem sei die kritische Auseinandersetzung mit Publikationen in sogenannten Journal Clubs, die in vielen Laboren regelmäßig stattfinden, unersetzlich. Prof. Dr. Lorenz Grigull, Oberarzt in der Kinderonkologie der MHH, warnt jedoch vor „Fake News“ in Artikeln, die durch den großen Druck, möglichst schnell – vor den anderen –
publizieren zu wollen, veröffentlich werden. Ein Sprungbrett für Madisch, der mit seinen
Mitarbeiter/innen eine online „Pro und Contra“ – Plattform in ResearchGate verankern möchte, um „die Diskussion an einem Ort zu zentralisieren und Transparenz zu schaffen“.
Doch wie funktioniert eine vernetzte Wissenschaft denn eigentlich heutzutage (noch)? Prof. Falk profitiert persönlich am meisten von persönlichen, langjährigen Bekanntschaften, Kongressen und E-Mail-Verkehr. Ihr traditionelles Netzwerk möchte sie nicht gegen virtuelle Verbindungen
eintauschen. Für Dr. Clemens Blümel, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für
Sozialwissenschaften der Humboldt – Universität Berlin, bedeutet Wissenschaft ebenfalls soziale Interaktion. Er sieht jedoch einen Vorteil darin, die Online- und Offline-Welt zu verbinden, um soziale Kontakte zu knüpfen, zu pflegen und zukunftsorientiert und global zu arbeiten. Er spricht an diesem Abend ein weiteres kontrovers diskutiertes Thema an: den sogenannten Impact Factor. Eine errechnete Zahl gibt hierbei an, wie groß der Einfluss eines bestimmten wissenschaftlichen
Journals eingeschätzt wird. Dabei handelt es sich darum, wie oft ein in der entsprechenden
Zeitschrift publizierter Artikel pro Jahr in anderen Veröffentlichungen zitiert wird. Blümel kritisiert diesen Maßstab, da er nicht die Qualität der publizierten Forschung in den Vordergrund rückt, sondern maßgeblich von der Anzahl der Wissenschaftler/innen abhängt, die sich für das Thema interessieren.
Auch aus dem Publikum ertönen viele Fragen. Das Thema „Gründen“ ist eines, das besonders die Studierenden im Hörsaal zu interessieren scheint. „Wie wird man Gründer?“ — keine einfache Frage und dennoch macht Madisch den Zuhörer/innen Mut. „Zu wenige Mediziner gründen, dabei ist es so wichtig, dass Gründer nicht aus den Business Schools, sondern aus den Industrien kommen. Sie kennen die Probleme aus der Praxis und haben einen ganz anderen Bezug zu ihnen. Dieses Thema ist genauso wichtig wie Anatomie und Physiologie und meiner Meinung nach sollte ein Modul ins Studium integriert werden, wo Gründer von ihren Erfahrungen berichten und den Studierenden ihre Möglichkeiten aufzeigen.“
Ein lehrreicher und vielfältiger Abend geht zu Ende, der allen Anwesenden gezeigt hat, dass der Arztberuf viele Arten der Entfaltung bereithält. Madischs wichtigste Message war aber definitiv: „Viele Menschen haben Angst vor dem Scheitern. Wir müssen uns trauen, Fehler zu machen. Ohne sie können wir nicht lernen.“ Dieser Mut muss auch in der Wissenschaft zum Ausdruck kommen. Nur so ist ein Wandel möglich weg von voreingenommenen Gutachter/innen, vorschnellen Publikationen, „Fake News“ und intransparenten Abläufen. Hin zu einer globalen Vernetzung, nachvollziehbaren Review-Prozessen und einer öffentlichen Auseinandersetzung mit den Daten. Es stellt sich die Frage, ob dafür einzig und alleine eine Plattform wie ResearchGate ausreicht. Dass jedoch der Umgang mit wissenschaftlichen Daten einer Modernisierung bedarf, lässt sich nicht bezweifeln. Am Ende sollte es doch von allen Wissenschaftler/innen das Ziel sein, fundierte und validierte Daten zu publizieren.
/lh